
Qualtitätstourismus
mehr erfahrenQualitätstourismus ist in aller Munde. Doch was versteht man eigentlich darunter? Über einen Begriff, der die Branche bewegt und erst noch mit Inhalt gefüllt werden muss
Und wieder neue Rekordzahlen. Mit Stolz feierte man alljährlich die Zuwächse bei Ankünften und Übernachtungen. Je mehr Gäste kamen, desto erfreulicher war das, je länger sie blieben, umso besser für alle Beteiligten. Das war auch in Baden-Württemberg so. Die Erhebung des Statistischen Landesamtes galt wie in anderen Bundesländern als absolute Messgröße für den touristischen Erfolg.
Dann kam die Corona-Krise. Eine Zeit des Nachdenkens, auch über die künftige Entwicklung. Der Übernachtungstourismus stand still, der Tagestourismus trieb seltsame Blüten, Mitarbeitende wechselten die Branche, Betriebe mussten aufgeben. Am Ende blieb die Frage, wie man eigentlich weitermachen will, zumal die Klimadiskussion den Tourismus in bisheriger Form zunehmend infrage stellte.
So stand schon der Tourismustag 2023 der Tourismus Marketing GmbH Baden-Württemberg (TMBW) im Zeichen des Umdenkens: „Tourismus jenseits des Wachstums?“ lautete der Titel. Daran soll nun in diesem Jahr angeknüpft werden, mit einer breiten Diskussion darüber, wie ein künftiger Tourismus aussehen kann, der nicht mehr nur auf quantitativen Zuwachs ausgerichtet ist.
Qualitätstourismus heißt das Zauberwort. Ein neuer umfassender Ansatz, der mehr ist als eine Übernachtungsbilanz.
Die klassischen Kennzahlen spielen eine Rolle, aber sie reichen nicht aus.
Andreas Braun fordert ein Umdenken, mehr Fokus auf qualitative Weiterentwicklung als auf quantitatives Wachstum. Und einen Wechsel der Blickrichtung: „Bisher gab es nur die Gästeperspektive, doch wenn wir weiterkommen wollen, müssen wir auch die Interessen der Einheimischen, Mitarbeiterinnen und Gastgeber berücksichtigen.“
Im Tourismus wird nämlich das Personal knapp. Erst kürzlich sorgte ein Restaurant im Schwarzwald für Schlagzeilen, weil es vor seiner Tür ein Schild mit dem Hinweis postierte: „Bitte seien Sie nett zu unserer Bedienung. Noch immer sind Kellner schwerer zu bekommen als Gäste.“ Das saß und deckt sich mit den Aussagen der Heidelberger Hoteldirektorin Caroline von Kretschmann, die die Zufriedenheit der Mitarbeitenden über die der Gäste stellt. Ein Wertewandel und eine Facette dessen, was den Qualitätstourismus der Zukunft ausmacht.
„Es geht auch darum, dass wir Reisende sensibilisieren, ein Bewusstsein schaffen für ein angemessenes Verhalten bei der Anreise oder am Urlaubsort“, sagt Tim Fichter von der TMBW. Fichter ist Projektmanager für Qualität und Nachhaltigkeit, eine Stelle, die erst kürzlich ganz neu geschaffen wurde.
Der 35-Jährige schreibt gerade seine Doktorarbeit zum Thema und versucht nun, die Interessen im Land zu bündeln. Dazu wurde Ende 2023 ein Runder Tisch mit Tourismusschaffenden aus den Regionen gebildet. Fichter will die Kriterien für einen nachhaltigen Qualitätstourismus mit ihnen gemeinsam entwickeln: „Der Fokus liegt zunächst darauf, ein einheitliches Leitbild zu schaffen und gemeinsame Ziele zu definieren.“ Viele Regionen in Baden-Württemberg haben bereits individuelle Maßnahmen ergriffen, so Fichter. Nun gehe es darum, einen Weg zu finden, wie wir gemeinsam einen größeren Mehrwert erzielen können.
Auch die Arbeitsgruppe Zukunftsentwicklung beim Deutschen Tourismusverband (DTV) stellt sich diesen Fragen. Sie sind komplex, zumal das Reisen in Zeiten von Klimawandel und Overtourism zunehmend einer Generalkritik ausgesetzt ist. Die Frage der Tourismusakzeptanz stellt sich dabei und das gleich in doppeltem Sinne, viele Einheimische haben es satt, im touristischen Verkehr zu ersticken, und Urlaubende wiederum fordern nachhaltige Angebote regelrecht ein.
Es braucht also neue Ansätze, eine neue Philosophie des Reisens. Das sieht auch der Südtiroler Tourismusforscher Harald Pechlaner so. „Die touristische Qualität ist nur eine Teilqualität, die wir bisher zu oft isoliert betrachtet haben“, sagt der Inhaber des Lehrstuhls für Tourismus an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
Eigentlich kommt der Begriff aus der Forstwirtschaft. Schon vor 300 Jahren hatte der sächsische Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz den massiven Holzverbrauch beklagt und in einer Denkschrift 1713 eine „nachhaltende Nutzung“ der Wälder gefordert: Nur so viel darf eingeschlagen werden, wie auch nachwächst. Es war die Geburtsstunde des Wortes Nachhaltigkeit in der deutschen Sprache.
Allerdings sollte es noch lange dauern, ehe der Begriff wirklich Karriere machte: 1952 hatte eine interparlamentarische Arbeitsgemeinschaft in der Bundesrepublik den „Grundsatz der Nachhaltigkeit“ zum Leitbild einer naturgemäßen Wirtschaftsweise gemacht, 1983 rief die UNESCO „sustainable development“ zum internationalen Ziel aus.
Zur globalen Strategie wurde die Nachhaltigkeit 1992 bei der UN-Umweltkonferenz von Rio.
Dort entstand das sogenannte Drei-Säulen-Modell, das die Nachhaltigkeit auf eine breite Grundlage stellt: Um ökologische Aspekte geht es dabei, um ökonomische und soziale.
Nachhaltigkeit im modernen Sinne ist also mehr als nur ein Umweltprogramm. 2015 wurden schließlich die globalen Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) festgelegt.
Dieses umfassende Verständnis liegt auch dem Nachhaltigkeitsverständnis der TMBW zugrunde. Neben einer besseren Ökobilanz geht es um die wirtschaftliche und gesellschaftliche Seite des Tourismus: Nur wenn sich Nachhaltigkeit rechnet und die Belange der Bevölkerung berücksichtigt werden, kann ein solcher Ansatz dauerhaft von Erfolg sein.
Immer mal wieder hat es in der Vergangenheit auch Kritik gegeben, etwa dahingehend, dass Nachhaltigkeit zu einem Gummibegriff geworden sei, der in wolkigen Formeln verbleibe oder nur dem Greenwashing von Unternehmen diene. Umso wichtiger ist es, ihn mit konkreten Inhalten zu füllen.
Denn in der Sache sind sich fast alle einig: Ohne Nachhaltigkeit ist heute keine langfristige Entwicklung mehr möglich – auch nicht im Tourismus.
Ein Qualitätstourismus der Zukunft müsse hingegen das Lebensgefühl einer gesamten Region im Auge haben. Der Begriff vom Lebensraum macht die Runde, vereinzelt haben Regionen wie der Wilde Kaiser in Österreich dafür sogar eigene Abteilungen eingerichtet, die Interessen von Gästen und Einheimischen in Einklang bringen sollen.
Tatsächlich belegt eine Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) mit dem Titel „360-Grad-Gastwelt“, dass sich Reisende keineswegs nur in ihrem touristischen Kosmos bewegen, sondern auch dort, wo Einheimische unterwegs sind – sei es beim Bäcker, im Textilfachgeschäft oder bei Veranstaltungen im Dorf. Ein nicht unerheblicher Anteil des Gesamteindrucks eines Urlaubsaufenthalts resultiert aus diesen Begegnungen, in positiver wie in negativer Hinsicht.
Von einer zufriedenen und freundlichen Bevölkerung profitiert also auch der Tourismus. Es lohnt sich demnach, die Menschen am Ort miteinzubeziehen. Das haben auch die Verantwortlichen im nördlichen Schwarzwald festgestellt, der seit Anfang 2024 das Gütesiegel „Qualitätsregion Wanderbares Deutschland“ trägt.
Nach und nach gelang es dabei, den Schwarzwaldverein für das Zertifizierungs-Projekt zu gewinnen. „Am Anfang waren viele skeptisch“, sagt die zuständige Outdoor-Expertin Vanessa Lotz-Kijak, „sie haben sich in der Vergangenheit wohl zu oft übergangen gefühlt.“ Doch am Ende habe man gemeinsam ein neues Wegekonzept entwickelt, auf das alle stolz sein konnten: „Wir waren sogar schon gemeinsam wandern. Und zur Verleihung des Zertifikats kam auch der Schwarzwaldverein auf die CMT.“
Interessant ist, dass die Tourismusakzeptanz zuweilen dort besser ausfällt, wo Tourismus wirklich stattfindet. Das zumindest haben vor einem Jahr Untersuchungen im Schwarzwald ergeben, bei denen Einheimische über die Effekte des Reiseverkehrs befragt wurden. Tatsächlich sorgt der Tourismus am Ort ja für Einkommen und eine entsprechende Infrastruktur: Läden, Restaurants und kulturelle Einrichtungen können oft nur existieren, weil es auch Übernachtungsgäste gibt.
Erst bei Überlastungen durch Overtourism kippt das Verhältnis wieder. „Doch einen echten Overtourism haben wir in Baden-Württemberg nicht“, sagt TMBW-Geschäftsführer Andreas Braun. Das meiste könne man mit einer intelligenten Besucherlenkung regeln, die ÖPNV-Angebote im Nationalpark Schwarzwald hätten auch dort für eine spürbare Entlastung gesorgt.
Immer wieder geht es also darum, die Interessen von Einheimischen, Besucherinnen und Mitarbeitern unter einen Hut zu bringen. Zum Beispiel, indem man sie von den gleichen Angeboten profitieren lässt: Ein gutes Beispiel sind die beiden Jobcard-Projekte aus dem Remstal und der DreiWelten-Region, die im Januar mit dem Innovationspreis Tourismus ausgezeichnet wurden. Hier können Arbeitgeber ihren Angestellten eine Freizeitkarte mit Zugang zu vielen touristischen Highlights schenken. Ein enormer Standortvorteil für die Regionen.
Die Donaubergland GmbH sucht schon seit Langem die Kooperation mit den ortsansässigen Betrieben. Dort hat man ein System von Wegepatenschaften für Wanderrouten entwickelt, mit gleich mehreren positiven Effekten: Die Strecken werden gepflegt und bei den Mitarbeitenden ein Bewusstsein für die Schönheiten in der Umgebung geschaffen. „Das fördert auch die Identifikation mit der Region“, sagt Walter Knittel, Geschäftsführer der Donaubergland GmbH. Regelmäßig versorgen Knittel und sein Team über die Lokalzeitung zudem auch Einheimische mit Wandertipps.
Ein Qualitätstourismus moderner Prägung hat also mehr im Blick als nur die Servicequalität für die Gäste. Doch freilich darf auch an der gearbeitet werden, denn tatsächlich haben sich die Bedürfnisse der Reisenden selbst geändert. „Wir sollten nicht nur bestehende Produkte weiterentwickeln, sondern ganz neue Produkte schaffen“, sagt Tourismusexperte Harald Pechlaner, der Keynote-Speaker des TMBW-Tourismustags 2024 ist.
So seien Touristen von heute auf der Suche nach tiefgreifenden Erfahrungen. Nicht nur Spaß, Freude und schöne Erlebnisse würden nachgefragt, sondern zunehmend auch sinnstiftende Aktivitäten wie Pilgern und berührende Momente in der Natur. Resonanzerfahrungen nennt man das inzwischen. Einfachheit wird dabei zum neuen Luxus: „Vier Sterne sind nicht mehr automatisch besser als zwei, das relativiert sich gerade“, sagt Harald Pechlaner.
Pechlaner misst auch der persönlichen Komponente im Tourismus eine neue Bedeutung bei. Die reine Gastlichkeit, der Service, könne an Relevanz verlieren. Hier würden womöglich Roboter im Restaurant und automatisierte Abläufe beim Check-in zunehmend Aufgaben erledigen: „Doch die Gastfreundschaft, das persönliche Wort kann keine Maschine ersetzen.“
Ein Qualitätstourismus moderner Prägung ist also eine vielschichtige Angelegenheit. Zumal dabei die wirtschaftlichen Aspekte nicht außen vor bleiben dürfen.
Wir haben hier 64.000 Betten, da kann ich die Auslastung nicht ignorieren.
Zumal die Zahl der Hotels in der Landeshauptstadt gestiegen ist, derweil die Geschäftsreisen in der Corona-Krise einbrachen und wohl auch nicht wieder auf das alte Niveau zurückkehren werden.
Was kann man also tun, wenn man nicht banal auf die Steigerung der Gästezahl schielen will? „Den Aufenthalt sinnvoll verlängern“, lautet die Antwort von Dellnitz. Geschäftsreisende blieben derzeit im Schnitt 1,8 Nächte. Wenn man ihnen jedoch einen Zusatznutzen bieten könne, seien die Chancen gut, dass sie eine Nacht dazubuchen.
Dellnitz denkt dabei zum Beispiel an Werksbesichtigungen in der Maschinenbaubranche oder Stuttgart-21-Führungen für Architektinnen und Architekten. Man arbeite gerade an Paketlösungen: „Das ist dann ja auch nachhaltig, wenn die, die ohnehin schon da sind, länger bleiben.“
In der Tat darf ein Qualitätstourismus die ökonomische Seite nicht vernachlässigen: „Es wird zu oft vergessen, dass nachhaltige Entwicklung im umfassenden Sinn eben mehr beinhaltet als nur den reinen Umweltgedanken“, sagt Tim Fichter von der TMBW, „es geht immer auch um soziale und wirtschaftliche Faktoren.“ Er wirft zudem die wichtige Frage auf, welche neuen touristischen Angebote in Zukunft bei den relevanten Zielgruppen auf Zahlungsbereitschaft stoßen werden.
Der wirtschaftliche Reiz einer nachhaltigen Entwicklung kann aber auch darin liegen, dass sie in zunehmendem Maße von den Urlaubenden eingefordert wird. Das bringt auch die Strategie 2030 der TMBW zum Ausdruck, die auf der Annahme beruht, dass nachhaltige und hochwertige Reiseziele langfristig auch ökonomisch erfolgreicher sind.
Es geht um unsere gemeinsame Vision: Was verstehen wir unter Qualitätstourismus?
So hat eine brancheninterne Online-Umfrage der TMBW zum Thema Qualitätstourismus ergeben, dass die Nachhaltigkeit auf den vorderen Plätzen rangiert – gleichauf mit der Gästezufriedenheit und nur knapp hinter den Serviceleistungen. Aus einem vermeintlichen Trendbegriff ist eine feste Größe geworden, die heute aus dem Tourismus nicht mehr wegzudenken ist.
Dabei muss sie vielfach noch mit Inhalt gefüllt werden. So weist Walter Knittel von der Donaubergland-Touristik auf einen Aspekt von Nachhaltigkeit hin, der ebenfalls gerne unterschätzt wird: die Qualitätssicherung. Zu oft würden beispielsweise neue Wanderwege ausgewiesen und dann nicht mehr gepflegt. Nachhaltigkeit jedoch bedeute, langfristiger zu denken, in Strategien und nicht nur in Einzelaktionen, die dann verpuffen.
„Qualität ist die Schwester der Strategie“, lautet denn auch das Credo des Südtiroler Tourismusforschers Harald Pechlaner. Qualitätstourismus als bewusste Weichenstellung für eine Zukunft, die man nach eigenen Vorstellungen gestalten will. Das kann dann tatsächlich auch mit einem Verzicht auf weiteres Wachstum einhergehen: Weniger ist mehr.
30 gute Qualitätsrouten sind besser als 300 völlig unüberschaubare.
So haben die Touristikerinnen und Touristiker im nördlichen Schwarzwald im Zuge des Zertifizierungsprozesses für die Qualitätswanderregion dort die Zahl der ausgewiesenen Wege drastisch reduziert. Am Ende war davon auch der Schwarzwaldverein überzeugt.
Qualität vor Quantität also, was letztlich auch die Gästezufriedenheit erhöhen soll. Ein Feld übrigens, auf dem nach Einschätzung von René Skiba, Geschäftsführer der Tourismus GmbH Nördlicher Schwarzwald, aktuell noch viel zu wenig gemessen wird: „Gute Gästebefragungen sind ein großes Thema, hier können wir noch eine Menge tun.“
„Wir sind bei vielem noch ganz am Anfang“, sagt Tourismus-Professor Harald Pechlaner. Es geht darum, Modelle zu entwickeln, die neue Kennzahlen und Zukunftsentwürfe zusammenführen. Möglichst so, dass das Ganze nicht im Bereich von Absichtserklärungen und Wortgeklingel verbleibt. „Wir müssen jetzt konkret werden und neue Wege gehen“, sagt auch Tim Fichter von der TMBW.
Damit am Ende nicht das passiert, was Walter Knittel von der Donaubergland GmbH ein wenig befürchtet: die Rückbesinnung auf die klassischen Kennzahlen von Ankünften und Übernachtungen. „Die Corona-Krise ist vorbei und die statistischen Zahlen sind wieder gut. Da kann man schon jetzt beobachten, dass sie in den Medien und bei den Verantwortlichen wieder für die altbekannten Reaktionen sorgen.“
Rund um die Themen Qualität und Nachhaltigkeit gibt es eine neue Landingpage im Tourismusnetzwerk. Neben Basisinformationen und hilfreichen Links stehen dort regelmäßige Updates zur Nachhaltigkeitsstrategie des Urlaubslandes Baden-Württemberg zur Verfügung.